Von der individuellen Mobilität zur „Demobilität“

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GESPRÄCH MIT DEM SOZIOLOGEN BRUNO MARZLOFF.

Sie haben in einem Interview den Begriff der „individuellen kollektiven Mobilität“ geprägt, können Sie uns etwas mehr darüber sagen und den Ursprung erläutern?

Der Begriff „individuelle kollektive Mobilität“ ist aus der Beobachtung der Bikesharing-Services, also der Bereitstellung von Leihfahrrädern, insbesondere in Paris, hervorgegangen. Diese Services haben die Lücke zwischen dem Privat-PKW und den öffentlichen Verkehrsmitteln geschlossen. Gleichzeitig mehren sich die alternativen Angebote (BlaBlaCar, Uber, Drivy etc.). Die individuelle Nutzung eines gemeinsamen Bestands hat den Weg für eine Vielfalt an Kombinationen bereitet, die sich die Städter für eine agile Mobilität zu eigen gemacht haben. Diese Innovationen beruhen zwar auf dem Begriff der gemeinsamen Nutzung, gehen aber weit darüber hinaus. Bei dieser „individuellen kollektiven Nutzung“ steht die Nutzung über dem Eigentum des eigenen Transportmittels; daraus entsteht ein heterogenes Mobilitätsnetz, das sich die Nutzer zu eigen gemacht haben. Die jeweils ca. 300 Meter voneinander entfernten Fahrradstationen stellen an sich bereits ein Netz dar. Sie sind nicht weit von Bus- oder Straßenbahnhaltestellen oder auch Bahnhöfen etc. entfernt. Diese Hubs könnten in der Zukunft auch mit Leihrollern, Fahrdiensten, dynamischen Mitfahr- oder Carsharing-Angeboten etc. verknüpft werden. Man könnte sich auch ein Mobilitätsnetz vorstellen, das in einem gering besiedelten Gebiet, einer sog. „Mobiltiätswüste“, in der es kaum öffentliche Verkehrsmittel gibt,
einen Rahmen für die Mobilität bildet.

Ist uns das ganze Ausmaß dieses Mobilitätsangebots bereits bewusst?

Die Herausforderung besteht darin, verschiedene Mobilitätsarten miteinander zu verknüpfen und die Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf der Fahrt zu schaffen. Daher stammt auch der Begriff „Mobility as a Service”, bei dem es um die horizontale Integration der bestehenden Transportmittel geht, mit einem einzigen Fahrschein, einer modalen, informations-, preis- und serviceorientierten Integration. Doch wird heute oft die physische Dimension des Netzes vernachlässigt, das, was wir als „Mobility as Networks“ bezeichnen. Ein engmaschiges Netz aus Hubs, wie bei den Pariser Leihfahrrädern „Velib“, würde die Möglichkeit bieten, Termine für Carsharing oder Fahrdienste etc. zu vergeben. Diese intermodalen Plattformen, die öffentliche, private und kollaborative Transportmittel eventuell mit anderen städtischen Dienstleistungen kombinieren, sind eine interessante Möglichkeit, die vertieft werden sollte. Unabhängig vom Sektor eröffnet die Bereitstellung neuer Transportmittel dem Nutzer ungeahnte Perspektiven. Er entscheidet selbst, kombiniert und erfindet seine Transportmittel neu. Die Auswahl ist allein durch die Zugänglichkeit und die Verknüpfung der Transportmittel begrenzt. Wir stehen vor der Geburtsstunde einer neuen Mobilität, die weniger auf Eigentum ausgerichtet ist, dafür aber sehr viel reibungsloser abläuft. Die sich daraus ergebende Komplexität wird durch die digitale Information aufgewogen.

Von welchen Argumenten werden sich die Nutzer in ihren täglichen Entscheidungen leiten lassen und wie kann dieses „multimodale“ Angebot stimuliert werden?

Damit die Nutzer die Wahl haben, muss es mehrere Auswahlmöglichkeiten geben, das lässt sich aber nicht überall und aus der Ferne überprüfen. Zum Beispiel muss in gering besiedelten Gebieten jeder sein eigenes Auto haben, ansonsten sieht es schlecht aus. Damit die Nutzer die Wahl unter multimodalen Transportmitteln haben, müssen auch die Übergänge minimiert werden. Auch hier sind die Absprachen zur Vernetzung aller Transportmittel noch unzureichend. Die Wahlmöglichkeiten sind kontextabhängig, aber die vorherrschenden Aspekte sind: Vermeidung einer aufgezwungenen Mobilität, Reduzierung von Zeitverlusten und Kosten und natürlich die nahtlosen Übergänge („Seamless“). Multimodalität zu stimulieren bedeutet nicht unbedingt, neue Transportmittel hinzuzufügen, sondern eher eine universelle Verknüpfung zu gewährleisten. Wir befinden uns in einem Zeitalter der Vereinfachungen, und da bleibt noch viel zu tun …

bruno marzloff

Bruno Marzloff, seit 1998 Leiter der Chronos Gruppe, unterstützt Bouygues Construction in seinem offenen und kollaborativen Ansatz rund um die Mobilität, die eine der Herausforderungen einer intelligenten und nachhaltigen Stadt darstellt.

Welche Akteure wären berechtigt, die Führungsrolle bei dieser Koordination zu übernehmen?

Die Frage ist, wie lässt sich angesichts der Vielzahl an privaten Initiativen, die zum bereits bestehenden Angebot hinzukommen, eine intelligente Bündelung umsetzen? Die Regulierungsbehörde muss ein öffentlicher Akteur sein. Ihre Aufgabe besteht darin, diese Vielzahl an privaten Initiativen zugunsten der Allgemeinheit im Auge zu behalten. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die großen Unternehmen der IT-Branche ihre Vision der Stadt mittels ihrer Angebote und Anwendungen aufzwingen. Wenn wir ein Jahrhundert zurückblicken, stellen wir fest, dass die öffentlichen Akteure einen universellen öffentlichen Mobilitätsservice gewährleistet haben. Das gesamte Staatsgebiet war durch ein sehr dichtes Bus- und Bahnnetz verbunden. Durch den massenhaften Einsatz des PKW wurde dieses Modell jedoch gekippt. Ziel ist es jetzt, die Vorherrschaft des PKW zu durch alternative Verkehrsmittel und eine verbesserte Zugänglichkeit zu stoppen. Früher wurde das Angebot von den öffentlichen Akteuren bereitgestellt, heute erwarten wir einen „Dirigenten“, der eine neue Vision der Stadt entwirft … aus dieser Vision der Stadt wird dann eine Vision der Mobilität für die Menschen abgeleitet. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der PKW mit 80 % der zurückgelegten Strecken immer noch den Verkehr dominiert. Wir dürfen auch die Mobilität von Waren nicht vergessen, die noch schneller wächst als die der Personen.

Beschränkt sich die Mobilität einzig und allein auf den Aspekt des „Transports“?

Nein. Wenn wir die Mobilitätsprobleme einzig und allein durch Transportangebote lösen wollen, dann steuern wir auf eine Sackgasse zu. Der Zweck liegt zunächst darin, die Nachfrage zu reduzieren. Die Mobilität umfasst zahlreiche Herausforderungen – Stadtplanung, Raumordnung, Arbeitsorganisation und Beherrschung des Handels. Wir haben heute Großstädte mit sehr großen Entfernungen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz. Das daraus entstandene Konzept wirkt sich nachteilig auf die Nutzer, die Stadt und die Unternehmen aus … Wir müssen auf jeden Fall zwischen gewählter und aufgezwungener Mobilität unterscheiden. Wie können wir die aufgezwungene Mobilität reduzieren, insbesondere zwischen Wohnort und Arbeitsplatz? Zusammen mit der Beobachtungsstelle für die sich aus dem Leben in der Stadt ergebende Anwendungen haben wir uns direkt an die Bewohner gewandt. Was sagen sie? Zunächst einmal wollen sie diese „fordistische“ Stadt nicht mehr, die sich immer weiter ausdehnt und zunehmend verstopft. Sie ertragen die hohen Lebenshaltungskosten, den zunehmenden Stress und die Umweltverschmutzung nicht mehr. Sie bevorzugen alles, was sich in der Nähe befindet. Sie fordern aktive Fortbewegungsarten: zu Fuß und mit dem Fahrrad, aber auch Sharing-Dienste, an die die Stadtplanung jedoch erst angepasst werden muss. Nähe steht für einen garantierten Zugang zu den wichtigsten Mobilitäts- und Transportmitteln in einer Entfernung von weniger als fünfzehn Minuten zu Fuß vom Wohnort. Das ist die „Stadt der Viertelstunde“. Ein weiterer Punkt, der für die Nutzer sehr wichtig ist, ist das tägliche Leben „aus der Distanz“- Homeoffice, E-Commerce, E-Health etc., Möglichkeiten zur Vermeidung der Transportmittel, eine Form der „Demobilität“. Es geht nicht darum,
die individuelle Bewegungsfreiheit einzuschränken, sondern überflüssige Fahrten zu vermeiden.

Was bieten wir den Bewohnern in ländlichen Regionen, in den Stadtrandgebieten oder in den Vorstädten?

Wir haben zugelassen, dass das Auto die ländlichen Regionen, die Stadtrandgebiete und die Vororte der Großstädte dominiert. So haben wir „Mobilitätswüsten“ geschaffen. Wir haben zugelassen, dass die Annehmlichkeiten in den Dorfzentren und Kleinstädten langsam schwinden. Es gibt keine Hubs mit Serviceleistungen vor Ort, wir müssen sie erst erfinden. Wir haben gesehen, wie das Fahrrad (Standardfahrrad oder E-Bike) mit sehr geringen Kosten in diesem Netz mit dynamischem Mitfahrerservice oder Carsharing genutzt werden kann. Das ist ein bedeutender toter Winkel der Mobilität.

Das autonome Fahrzeug wird zunehmend ins Gespräch gebracht, mit neuen Akteuren. Wie sehen die von Ihrer Beobachtungsstelle befragten Nutzer das autonome Fahrzeug?

Wenn man die Nutzer fragt, wie sie sich die Transportmittel der Zukunft vorstellen, nennen sie People Mover und Shuttleboote. Der private PKW, autonom oder mit Fahrer, liegt weit dahinter. Der private PKW spielt vor allem in der Automobilindustrie eine große Rolle, aber weit weniger in den Köpfen der Menschen. Warum? Weil dieser Shuttle-Verkehr Teil des öffentlichen Personennahverkehrs ist. Er entspricht dem Wunsch nach Entschleunigung, Nähe und einer „Stadt in Reichweite“. Der „Zauber“ des autonomen Fahrzeugs regelt jedoch das Problem verstopfter Städte nicht. Das Auto wird zwar immer sauberer und vernetzter, nimmt aber trotzdem noch zu viel Platz in den Städten ein. Wir dürfen also nicht auf Überlegungen zur Stadt und auf die Meinung der Nutzer verzichten.

Chronos: eine gemeinsame Zukunft

Chronos ist ein Consulting-Büro für soziologische Studien im Bereich der Innovation und beobachtet, hinterfragt und analysiert die Entwicklung und die Herausforderungen der Mobilität. Die Tätigkeit des Unternehmens beruht auf drei Schwerpunkten: zukunftsorientierte, strategische Beobachtung und Analysen und Unterstützung des Wandels und des Innovationsmanagements. Chronos führt gezielte Studien unter Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen seiner Kunden durch.


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